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Das soziale Gehirn: Theory of Mind, Einsamkeit und das Spektrum Introvertiert–Extrovertiert

Im heutigen Artikel lernst du die Theory of Mind kennen, erfährst, wie Einsamkeit körperliche Schmerzen auslöst und verstehst die sozialen Auswirkungen deiner introvertierten oder extrovertierten Persönlichkeit

Die isolierte Untersuchung von Neuronen gibt uns nur wenige Anhaltspunkte über die Funktionsweise des Gehirns. In ähnlicher Weise gibt uns die isolierte Erforschung von Gehirnen wenig Aufschluss über ihre Funktionsweise.

Um das Gehirn wirklich zu verstehen, müssen wir es in Verbindung mit anderen Gehirnen bringen. Schließlich war es eine Gemeinschaftsleistung und unsere Fähigkeit zur Interaktion, die es uns ermöglichte, die Spitze der Tierhierarchie zu erreichen.

In diesem Artikel fassen wir drei Ideen zusammen, die für das bessere Verständnis des Zusammenspiels unserer Gehirne wichtig sind. 

Theory of Mind

Um in einer sozialen Gruppe erfolgreich zu sein, muss man die Gedanken, Gefühle und Absichten der anderen verstehen können. Diese Fähigkeit, die sogenannte Theory of Mind, ist schwer zu entwickeln. In anderen Worten drückt die Theorie des Geistes oder Bewusstseins das Vermögen aus, mentale Zustände als mögliche Ursache eines Verhaltens zu verstehen, um eigene oder fremde Handlungen erklären und vorhersagen zu können. 

Unser Gehirn beginnt vom ersten Tag an, diese Fähigkeit zu trainieren. Babys schenken menschlichen Gesichtern mehr Aufmerksamkeit als allen anderen visuellen Reizen.

Auf diese Weise beginnen wir, Kontakte zu knüpfen und die Gruppe, der wir angehören, kennenzulernen. Unser Wohlbefinden hängt entscheidend von der Interpretation der inneren Welt unserer Bezugspersonen und Mitmenschen ab. Unser Gehirn verwendet einen Großteil seiner neuronalen Infrastruktur darauf, dieser Aufgabe gerecht zu werden.

Das ständige Nachdenken über andere Menschen und unsere Beziehung zu ihnen ist gewissermaßen der Standardzustand oder das neuronale Standardnetzwerk unseres Gehirns.

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Wenn wir unser Gehirn „auffordern“, für eine Prüfung zu lernen oder eine Kostenkalkulation zu machen, aktiviert es Gehirnbereiche, die mit dem Gedächtnis, der Argumentation, dem Lernen und der Planung verbunden sind.

Wenn wir jedoch aufhören, uns auf eine externe Aufgabe zu konzentrieren, aktivieren wir unser neuronales Standardnetzwerk und lenken die Aufmerksamkeit wieder auf uns selbst und unsere Beziehungen zu anderen.

Die einzige mögliche Erklärung dafür, dass so viele kostbare Ressourcen für diese Tätigkeit aufgewendet werden, ist, dass sie lebenswichtig gewesen sein muss. Wir hätten uns als Spezies nicht weiterentwickelt, wenn unser Gehirn, das im Ruhezustand 20 % der Energie verbraucht, seine gesamte freie Zeit mit irrelevanten Aufgaben verbracht hätte.

Die Tatsache, dass das Gehirn mehr Zeit auf soziales Denken verwendet als auf alles andere, gibt uns eine Vorstellung davon, wie wichtig die Interaktion mit anderen Menschen für unser Überleben und Fortkommen im Leben ist. Mehrere Neurowissenschaftler kamen zu diesen Schlussfolgerungen, indem sie in unsere Gehirne erforschten, aber wir könnten die gleichen Schlussfolgerungen ziehen, wenn wir unser Verhalten genauer unter die Lupe nehmen.

Das Internet gibt uns Zugang zu allem Wissen des Universums, aber wo verbringen wir online die meiste Zeit? In sozialen Netzwerken.

In unserer Freizeit ermutigt unser Gehirn uns nicht dazu, komplexe mathematische Probleme zu lösen, sondern Instagram & Co. zu öffnen, um zu sehen, was andere Menschen gerade tun. Wenn der Facebook-Konzern eine Religion wäre, hätte er mehr Mitglieder als das Christentum und der Islam.

Die Tatsache, dass die beliebtesten Ziele im Internet Seiten sind, die unserem sozialen Leben gewidmet sind, ist kein Zufall, sondern lediglich ein Spiegelbild unserer standardmäßigen neuronalen Verdrahtung.

Überzeugungen und Erfahrungen

In den ersten Lebensjahren haben wir nur eine Ich-Sichtweise der Welt um uns herum. Wir gehen davon aus, dass diese von allen Mitmenschen geteilt wird. Wenn wir unsere Augen bedecken, denken wir, dass uns niemand sieht.

Ein klassisches Experiment zur Bestimmung des Zeitpunkts, an dem wir uns der Trennung unseres eigenen Geistes von der Gemeinschaft bewusst werden, ist der sogenannte Sally-Anne Test

Hier beobachten Kinder verschiedener Altersgruppen ein Spiel mit zwei Puppen (Sally und Anne). Neben den Puppen kommen in der Szene auch eine Kiste, ein Korb und eine Murmel vor.

Zu Beginn legt Sally die Murmel in den Korb und geht weg. Während ihrer Abwesenheit holt Anne die Murmel aus dem Korb und legt sie in die Schachtel. Kurze Zeit später kehrt Sally zurück, und die Forscher fragen die Kinder, wo sie die Murmel suchen wird – im Korb oder in der Schachtel?

Die meisten Dreijährigen antworten mit „in der Schachtel“. Sie wissen, dass die Murmel dort ist, und nehmen an, dass Sally es auch weiß, obwohl sie ja nicht zugegen war, als Anne den Wechsel vollzog.

Im Alter von fünf Jahren verstehen jedoch fast alle Kinder, dass sie die Murmel in dem Korb suchen wird, in dem Sally sie liegen gelassen hat.

Sie sind jetzt in der Lage zu verstehen, dass die Überzeugungen anderer Menschen von ihren Erfahrungen abhängen, die nicht mit ihren eigenen übereinstimmen (müssen).

Foto von Johnny Cohen auf Unsplash

Ungefähr in diesem Alter entwickeln Kleinkinder auch eine weitere Fähigkeit, die ihre wachsende soziale Kompetenz verdeutlicht: das Lügen.

Ohne eine ausreichend entwickelte Theory of Mind ist Lügen nicht denkbar. Nur wenn man versteht, dass der eigene Verstand verschiedene Informationen enthalten kann, die für andere unzugänglich sind, kann man anfangen, bewusst zu lügen.

Jede Störung des neuronalen Standardnetzwerks führt zu Problemen in zwischenmenschlichen Beziehungen. So wird beispielsweise angenommen, dass Autismus (zum Teil) durch Defizite in dieser Fähigkeit verursacht wird. So geben nur 20 % der Kinder mit Autismus beim Sally-Anne-Test die richtige Antwort, obwohl sie bei analytischen oder mathematischen Tests gut abschneiden.

Analytische und emotionale Intelligenz nutzen unterschiedliche neuronale Verschaltungen. Ohne Zugang zu den Absichten, Emotionen und Überzeugungen anderer Menschen wird eine gelungene soziale Interaktion zu einer gewaltigen Herausforderung, die diese Menschen fortan lieber aus dem Weg gehen.

Einsamkeit schmerzt

Durch einen Blick ins Innere des Gehirns mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRI oder fMRT) können wir feststellen, dass Einsamkeit oder soziale Ablehnung dieselben Hirnregionen aktiviert wie körperlicher Schmerz. Es ist kein Zufall, dass wir ähnliche Worte verwenden, um emotionalen Schmerz zu beschreiben: „sie hat mir das Herz gebrochen“ oder „er hat meine Gefühle verletzt“.

Schäden in unseren sozialen Beziehungen lösen im Gehirn eine ähnliche Reaktion aus wie Verletzungen unseres physischen Gewebes. Es sind zwar unterschiedliche Schmerzen, aber dennoch Schmerzen. Tatsächlich ruft sozialer Schmerz intensivere Erinnerungen hervor als körperlicher Schmerz.

Deine schmerzhaftesten Erinnerungen stammen wahrscheinlich nicht aus der Zeit, als du dir den Arm gebrochen hast, sondern als du ein Familienmitglied verloren hast oder eine Trennung verkraften musstest. Knochen heilen in ein paar Monaten.  Emotionale Wunden können dir ein Leben lang bleiben.

Zusätzlich zu den Erkenntnissen der funktionellen MRT bestätigen viele Studien, dass beide Schmerzarten dieselbe Neurobiologie aufweisen.

So berichten etwa Menschen, die sich kleineren chirurgischen Eingriffen unterziehen mussten, über weniger körperliche Schmerzen, wenn eine geliebte Person während des Eingriffs ihre Hand hielt.

Noch überraschender ist, dass neuere Untersuchungen zeigen, dass herkömmliche Schmerzmittel wie Paracetamol auch emotionale Schmerzen lindern können.

All dies ist jedoch aus evolutionärer Sicht sinnvoll. Schmerz ist ein Schutzmechanismus, dessen Funktion darin besteht, Verhaltensweisen zu vermeiden, die uns schaden könnten. Der Schmerz der Einsamkeit trieb unsere Vorfahren dazu, den Schutz der Gruppe zu suchen, was ihre Überlebenschancen erhöhte.

Aus demselben Grund haben sowohl Einsamkeit als auch soziale Ablehnung ähnliche Auswirkungen wie chronische Schmerzen und erhöhen etwa das Risiko einer Depression.

Introvertiert oder Extrovertiert?

Wie jedes Persönlichkeitsmerkmal ist auch unser Wunsch, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten, normalverteilt. Menschen auf entgegengesetzten Seiten des Spektrums werden ein und dasselbe soziale Ereignis sehr unterschiedlich erleben.

Für jemanden, der sehr extrovertiert ist, wird eine Party mit Arbeitskollegen eine lockere und lustige Erfahrung sein. Im Gegensatz dazu wird der introvertierte Mitarbeiter den Abend vielleicht damit verbringen, auf das Ende der Veranstaltung zu warten, um endlich nach Hause gehen zu können. 

Deine Position auf dem Spektrum hängt zum Teil von den Genen, zum Teil von der Umwelt (oder deinen früheren Erfahrungen) und zum Teil von zufälligen Prozessen ab, die sich während der Gehirnentwicklung abspielten.

Dein Platz auf diesem Spektrum, wird deine sozialen Erfahrungen beeinflussen.

In mehreren Studien wurden spezifische Unterschiede im Gehirn von stark extrovertierten im Vergleich zu stark introvertierten Menschen festgestellt. Extrovertierte Personen reagieren etwa empfindlicher auf soziale Reize und schütten mehr Dopamin aus. Sie empfinden mehr Freude an der Interaktion mit anderen. Das Fehlen zwischenmenschlicher Kontakte ist für sie schmerzhafter.

Extrovertierte Menschen sind tendenziell glücklicher und neigen dazu, weniger psychische Krankheiten zu entwickeln, zum Teil, weil Extravertiertheit eine gesellschaftlich geschätzte Eigenschaft ist. Eine 2018 veröffentlichte Meta-Analyse zeigt, dass introvertierte Menschen ein höheres Alzheimer-Risiko haben, möglicherweise aufgrund einer geringeren Aktivierung der an der Sozialisierung beteiligten Hirnareale.

Introvertierte Menschen hingegen haben in der Regel einen dickeren präfrontalen Kortex, der mit einer besseren Planung und weniger Impulsivität einhergeht. Außerdem schneiden sie im Vergleich zu ihren extrovertierten Altersgenossen in der Regel in der Schule besser ab.

Kurz gesagt, es ist nicht besser, auf der einen Seite des Spektrums zu stehen als auf der anderen. Die natürliche Auslese begünstigt das Überleben von Gruppen, in denen beide Persönlichkeitsmerkmale ausgewogen vorhanden sind.

Gruppen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Vorlieben hatten eine größere Überlebenschance als Gruppen mit sehr homogenen Persönlichkeitsstrukturen. Stämme mit übermäßig abenteuerlustigen und risikofreudigen Mitgliedern würden zu viele Risiken eingehen und damit das Überleben der Gruppe gefährden. Wenn dagegen alle zu vorsichtig waren, würden sie sich nicht weit vom Lager entfernen und brächten sich um die Chance, neue Nahrungsquellen zu entdecken.

Auf individueller Ebene solltest du deine Persönlichkeit akzeptieren, deine positiven Seiten nutzen und versuchen, die weniger günstigen Aspekte (zumindest etwas) zu kompensieren.

Eine Interventionsstudie hat gezeigt, dass sich das Wohlbefinden von introvertierten Menschen verbessert, wenn sie sich bemühen, ihren natürlichen Widerstand gegen soziale Kontakte zu überwinden. Sie sollten jedoch ihre Sozialisierungsstrategie an ihre persönlichen Vorlieben und Interessen anpassen.

Wenn du ein introvertierter Mensch bist, könntest du – statt auf große Partys zu gehen – zum Beispiel Veranstaltungen mit kleinen Gruppen organisieren, um Themen zu erkunden, die dich interessieren.

Wenn du extrovertiert bist, solltest du die natürlichen Vorteile deiner Persönlichkeit nutzen, aber es gleichzeitig vermeiden, eine emotionale Abhängigkeit von anderen Menschen zu entwickeln. Manche Personen brauchen ständig soziale Stimulation und sind nicht in der Lage, sich selbst gut zu fühlen und die Alleinzeit zu genießen. Baue deswegen nicht nur deine Beziehungen zu anderen aus, sondern nimm dir auch Zeit, deine innere Welt zu erkunden.

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