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Das T-Modell des Wissens

Im heutigen Artikel geht es um das sogenannte T-Modell des Wissens, der idealen Kombination aus dem Spezial- und Allgemeinwissen. 

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„Try to learn something about everything and everything about something.“

Im Laufe der Evolution haben die verschiedenen Arten unterschiedliche Überlebensstrategien entwickelt. Einige wurden eher zu Generalisten, andere eher zu Spezialisten.

Die Generalisten können sich an verschiedene Klimazonen und Ernährungsformen anpassen. Zu dieser Gruppe gehören Kakerlaken, Ratten und Menschen.

Spezialisten konzentrieren sich dagegen auf bestimmte Nischen. Sie benötigen ganz bestimmte Nahrungsmittel oder klimatische Bedingungen, um zu überleben. Koalas und Pandabären sind Vertreter dieser Gruppe. 

Ein Spezialist zu sein, hat Vorteile. Koalas haben bei den Eukalyptusblättern, ihrer einzigen Nahrung, wenig Konkurrenz. Tiere mit einer abwechslungsreichen Ernährung hingegen konkurrieren mit vielen verschiedenen Arten.

Andererseits sind die Spezialisten viel anfälliger für Veränderungen in der Umwelt. Kleine klimatische Schwankungen oder Veränderungen in Bezug auf ihre Nahrungsquelle können sehr bedrohlich werden. 

Biologische Nischen sind schwer zu verändern, aber wir können die gewonnenen Erkenntnisse auf den intellektuellen Bereich anwenden. Wenn es um die Entwicklung neuer Fähigkeiten und Kenntnisse geht, lohnt es, sich an dem sogenannten T-Modell des Wissens zu orientieren. Es empfiehlt sich, Grundkenntnisse in mehreren Bereichen und zusätzlich Spezialwissen auf einem Gebiet zu erwerben.

Gehe in die Breite und Lerne etwas über alles

„Um einen vollständigen Geist zu entwickeln, studiere die Wissenschaft der Kunst, studiere die Kunst der Wissenschaft. Lerne zu sehen, und du wirst erkennen, dass alles mit allem zusammenhängt.“

Das T-Modell des Wissens

Das Überleben in der Wildnis erforderte vielfältige Fähigkeiten. Unsere Vorfahren bauten Jagdwerkzeuge, konnten aber auch Hunderte Pflanzenarten unterscheiden. Sie fertigten Kleidung an, um sich vor der Kälte zu schützen, konstruierten einfache Boote, um Flüsse zu befahren und fanden auch Zeit, sich künstlerisch auszudrücken. 

Die moderne Gesellschaft hingegen scheint auf eine immer stärkere Spezialisierung und eng umfasste Wissensgebiete hinauszulaufen. Eine Spezialisierung hat natürlich viele Vorteile, aber birgt auch Gefahren. So schränkt sie unseren Blick und unsere Auswahl ein. Wenn man nur einen Hammer im Werkzeugkasten hat, neigt man dazu, alle Probleme für Nägel zu halten.

Hoch spezialisierte Ärzte geben oft schlechtere Empfehlungen und schlagen Behandlungen in ihrem Fachgebiet vor, ohne zu wissen, dass es andere, effizientere und mitunter schonendere Behandlungsmethoden gibt. Interventionelle Kardiologen schlagen beispielsweise viel häufiger den Einsatz von Kathetern vor als weniger spezialisierte Kardiologen, und die Patienten der letzteren haben tendenziell bessere Ergebnisse (mehr Details).

Der Nobelpreis ist wahrscheinlich die prestigeträchtigste Auszeichnung der Welt. Viele Menschen gehen davon aus, dass er das Ergebnis absoluter Hingabe an eine einzige Aufgabe ist. Eine Analyse von Hunderten Nobelpreisträgern ergab jedoch, dass viele von ihnen sich dadurch auszeichnen, dass sie mehr Hobbys und Interessen außerhalb ihres Fachgebiets haben als andere Wissenschaftler. Ähnliche Untersuchungen bei Unternehmern bestätigen, dass diejenigen erfolgreicher sind, die Wissen aus verschiedenen Bereichen kombinieren (mehr Details).

Weltbekannte Genies aus der Geschichte überschritten ständig die künstlichen Grenzen, die wir oftmals dem Wissen auferlegen. Leonardo da Vinci war ein uneheliches Kind, was ihm den Zugang zu einer guten Ausbildung verwehrte und ihn von den lukrativsten Berufen der damaligen Zeit ausschloss. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb gelang es ihm, zahlreiche Gebiete zu revolutionieren, von der Malerei und Bildhauerei, über die Medizin bis zum Ingenieurwesen (mehr Details).

Trotz seines fehlenden Studiums revolutionierte Leonardo zahlreiche Wissensgebiete: Malerei, Bildhauerei, Optik, Anatomie, Ingenieurwesen...

Bei der Kreativität geht es nicht zuletzt darum, Verbindungen zwischen scheinbar unzusammenhängenden Elementen zu erkennen. Wenn man sich einem breiten Spektrum an Wissensgebieten aussetzt, ist es wahrscheinlicher, dass man diese neuen Schnittstellen findet.

Das Gleiche gilt auch für den Bereich des Sports. Athleten, die sich zu früh spezialisieren, haben kürzere Karrieren und erleiden mehr Verletzungen (Studie). Sowohl unser Körper als auch unser Gehirn wurden in einer generalistischen Welt geschaffen.

Versuche daher, verschiedene Themen und ihre Zusammenhänge kennenzulernen. Denke global und speziell, praktisch und philosophisch. Kurz gesagt: Beschäftige dich mit allem, was dein Interesse weckt, und versuche, von vielen Themen und Experten etwas zu lernen.

Tiefe: Lerne alles über ein bestimmtes Thema

Der griechische Dichter Archilochus stellte in einem seiner Texte fest: „Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß eine große Sache.“ Der russisch-britische Philosoph Isaiah Berlin verfasste in den 1950er-Jahren einen berühmten Aufsatz mit dem Titel Der Igel und der Fuchs, der auf diesem Gedanken beruht. Er klassifizierte berühmte Autoren als Igel oder Fuchs, je nach ihrer Sicht der Welt und ihrer Art, in ihr zu handeln.

Wir haben bereits gesehen, dass der Fuchs mit seinem breit gefächerten Wissen und vielfältigen Strategien wichtige Vorteile in sich vereint, aber wir sollten auch vom Igel lernen. Wird er angegriffen, hält er nicht inne, um über die beste Reaktion nachzudenken, sondern rollt sich einfach zu einer scharfen Festung zusammen. Das ist seine einzige Verteidigungsstrategie, aber eine essenzielle, die er perfekt anwenden kann. 

Foto: Erik Mclean
Foto: Sierra NiCole Narvaeth

In der Praxis ist es ratsam, dass du nicht etwas über viele Dinge lernst, sondern auch möglichst viel über ein bestimmtes Thema. Wähle etwas, das dich interessiert, und versuche, jeden Tag mehr darüber herauszufinden. Sei gleichzeitig ein Fuchs und ein Igel.

Wir empfehlen, dieses spezialisiertere Lernen nach dem Vorbild der mittelalterlichen Berufe auszurichten und hierbei den langen Weg vom Lehrling zum Meister zu gehen. Im Mittelalter arbeitete der Lehrling (für Kost und Logis) bei einem Meister, während er Stück für Stück das Handwerk erlernte. Bei ausreichender Motivation wurde er zunächst Geselle. Er konnte dann reisen und auf eigene Faust arbeiten, aber selbst noch keine neuen Lehrlinge aufnehmen. Dieses Privileg war nur den Meistern vorbehalten. Mehrere Jahre lang experimentierte der Geselle mit den erlernten Techniken, bis er etwas schuf, das seine Beherrschung des Handwerks bewies: Sein Meisterstück. Von da an durfte er sich Meister nennen und selbst ausbilden. 

Wir behaupten nicht, dass wir uns 1:1 an die starre Struktur des Ausbildungsmodells der mittelalterlichen Zünfte halten sollten. Wir glauben aber, dass wir unsere Weiterbildung in einem Gebiet wie eine Kunst angehen und uns als Handwerker betrachten sollten, die die Beherrschung eines Handwerks anstreben. Um ein Meister zu werden, waren im Durchschnitt acht bis zehn Jahre Lehre und Übung erforderlich, also insgesamt etwa zehntausend Stunden. Diese zeitliche Investition entspricht in etwa dem, was Studien über den Fleiß aussagen, der erforderlich ist, um außergewöhnliche Fähigkeiten zu entwickeln.

Das Konzept der zehntausend Stunden geht auf eine berühmte Studie über Geiger zurück, die herausfinden wollte, welche Faktoren die außergewöhnlichen von den anderen Geigern unterscheiden. Natürlich spielen auch Intelligenz und Talent eine Rolle, aber der entscheidende Faktor ist die Hingabe bzw. der Fleiß. Die besten Geiger waren schlicht diejenigen, die am meisten geübt hatten.

Quelle: Researchgate (Klick auf die Grafik)

Zehntausend Stunden sind dennoch eine willkürliche Zahl. Die Studie macht deutlich, dass es nicht nur auf die aufgewendeten Stunden ankommt, sondern auch auf die Qualität der Übungseinheiten. Anders Ericsson, der Autor dieser berühmten Studie, prägte den Begriff deliberate practice (gezielte Praxis/bewusstes Üben). Das bewusste Üben hängt von drei Faktoren ab, auf die wir im Folgenden eingehen werden (mehr Details).

Bewusstes Üben / Deliberate Practice

Der erste Faktor ist die Motivation. Du solltest dich für ein Wissensgebiet oder eine Fähigkeit entscheiden, bei der/dem du einen Drang spürst, dich verbessern zu wollen. Lässt die Motivation dann mit der Zeit nach, solltest du deine Ziele ändern. Du solltest aber sicherstellen, dass du sie nicht deshalb änderst, weil sich der Prozess schwieriger darstellt, als du dachtest. 

Zweitens solltest du dir für jede Übungseinheit klare Ziele setzen. Es gilt nicht nur zu klären, was du in jeder Sitzung erreichen möchtest, sondern auch darum den richtigen Schwierigkeitsgrad zu wählen. Wenn es zu leicht ist, wirst du dich langweilen und nicht groß vorwärtskommen. Ist es dagegen zu schwierig, besteht die Gefahr, dass du schnell frustriert bist. In jeder Übungseinheit solltest du etwas ausprobieren, das ein wenig über deine derzeitigen Fähigkeiten hinausgeht. Es sollte sich etwas (aber nicht sehr) unangenehm anfühlen. Dies ist das ideale Maß an Komplexität, um deinen Geist zu fordern, ohne ihn zu entmutigen.

Und schließlich drittens: Feedback. Um schnell zu lernen, benötigt man schnelles Feedback. Es sollte eine direkte Verbindung zwischen Aufwand und Ergebnis geben. Bei einigen Fertigkeiten sieht man sofort, ob eine Anstrengung erfolgreich war. Wenn du beim Basketball auf den Korb wirfst, ist das Ergebnis deiner Aktion klar und direkt. In anderen Disziplinen brauchst du mehr Zeit zu Analyse und es kann sinnvoll sein, sich externe Mentoren zu suchen, die dir das entsprechende Feedback geben.

Eine letzte Empfehlung: Wenn du kannst, solltest du das, was du lernst und gelernt hast, an andere Menschen weitergeben. Mehrere Studien zeigen, dass man sich auf diese Art und Weise mehr merken kann und dem eigenen Lernprozess mehr Aufmerksamkeit schenkt. Wenn einer lehrt, lernen zwei (Studie). 

„Was habe ich heute gelernt?“, ist eine Frage, die du dir am Ende eines jeden Tages stellen solltest. Bleib neugierig. Finde etwas, das dein Interesse weckt und dann bemühe dich, darin besser zu werden. 

In einem der letzten Interviews, das der Komponist Pau Casals im Alter von fünfundneunzig Jahren gab, fragte ihn ein junger Journalist, warum er in so hohem Alter noch sechs Stunden am Tag am Cello übe. Casals antwortete: „Weil ich glaube, dass ich immer noch Fortschritte mache“. Das ist die richtige Einstellung. Ständiges Lernen führt nicht nur zu einer größeren kognitiven Reserve, sondern auch zu einem reicheren und spannenderem Leben.

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Titelfoto von Carl Jorgensen 

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