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Wie wir unseren Geist stärken, Ängste abbauen und die Gesellschaft vereinen können

Im heutigen Artikel geht es um das große Ganze und um ein interessantes Buch, welches uns einen Spiegel vorhält und uns umsetzbare Wege aufzeigt, wie wir unseren Geist stärken, unsere Ängste abbauen und die Gesellschaft vereinen können. 

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Das Glück hängt in hohem Maße von der Qualität unserer persönlichen Beziehungen und der Gesundheit unseres Geistes ab. An beiden Fronten scheinen wir jedoch seit einigen Jahren Rückschritte zu machen: 

  1. Wir leben in größerer Sicherheit als je zuvor, aber Angstzustände und Depressionen haben in Deutschland stark zugenommen, insbesondere bei sehr jungen Menschen (Studie). 
  2. Wir haben heute mehr Kommunikationsmittel als jemals zuvor, fühlen uns aber immer isolierter und gespaltener (Artikel). 

Wie bei allen komplexen Problemen wäre es ein Fehler, dies einem einzigen Faktor zuzuschreiben. Ein 2019 erschienenes Buch von Jonathan Haidt (ein amerikanischer Psychologieprofessor) und Greg Lukianoff (ein amerikanischer Journalist, Autor und Aktivist) untersucht einige der Dinge, die wir aktuell falsch machen, und gibt Empfehlungen für Verbesserungen.

Heute gehen wir auf die wichtigsten Prämissen des Buches ein und untersuchen einige der darin enthaltenen Vorschläge.

Die großen Unwahrheiten der Moderne

Das Buch beginnt mit einer Auflistung von drei großen Unwahrheiten oder populären Ideen, die aus der Sicht der Autoren zu vielen der heutigen Missstände beitragen:

  1. The Untruth of Fragility: What doesn’t kill you makes you weaker. = Die Unwahrheit der Zerbrechlichkeit: „Was dich nicht umbringt, macht dich schwächer.“
  2. The Untruth of Emotional Reasoning: Always trust your feelings. = Die Unwahrheit der emotionalen Argumentation: „Vertraue immer deinen Gefühlen.“
  3. The Untruth of Us Versus Them: Life is a battle between good people and evil people. = Die Unwahrheit des ‚Wir gegen Sie‘: „Das Leben ist ein Kampf zwischen guten und bösen Menschen.“

Menschen mit diesen Überzeugungen leiden unter einer schlechteren körperlichen und geistigen Gesundheit. Die Autoren argumentieren, dass diese Unwahrheiten nicht nur den Erkenntnissen antiker Denkrichtungen (wie der stoischen Philosophie), sondern auch neueren Forschungsergebnissen zum emotionalen Wohlbefinden widersprechen. Diese falschen Glaubenssätze sind schädlich für die Menschen, die sie übernehmen, und für die Gemeinschaften, in denen wir zusammenleben.

Schauen wir uns die drei Unwahrheiten nun etwas genauer an.

Unwahrheit Nummer 1: Was dich nicht umbringt, macht dich schwächer.

Unsere Vorfahren führten ein viel härteres und gefährlicheres Leben als wir. Jede Generation versuchte, den Nachkommen eine etwas bessere Welt zu hinterlassen. Dieser Schutzinstinkt verbesserte allmählich die Lebensqualität für die Jüngsten und verringerte Risiken und Unfälle. Doch mehr Schutz ist nicht automatisch immer besser.

In dem Maße, wie die Anforderungen, denen wir ausgesetzt sind, abnehmen, sinkt auch unsere Toleranz gegenüber körperlichen und seelischen Beschwerden. Jede neue Generation legt die Messlatte für das, was sie tolerieren kann, ein wenig niedriger. Das wiederum macht uns schwächer und anfälliger. 

Der Autor Nassim Nicholas Taleb erklärt in einem seiner Bücher, warum unsere Spezies grundsätzlich antifragil ist. Wir Menschen benötigen bestimmte Herausforderungen, um stärker zu werden.

So wissen wir zum Beispiel, dass die permanente Abschirmung von Kindern vor allen Arten von Mikroben und Bakterien die Entwicklung ihres Immunsystems beeinträchtigt. Auf die gleiche Weise erhöht die konsequente Auslassung potenziell allergener Lebensmittel (wie Erdnüsse) in den ersten Jahren das Risiko von Allergien in der Zukunft (Studie I, Studie II).

Was die körperliche Entwicklung anbelangt, ist ein gewisses Risiko beim Spielen ein notwendiger Bestandteil des Heranwachsens. Abgesehen von den Vorteilen, die mit körperlicher Betätigung verbunden sind, stärken kontrollierbare Risiken (z. B. das Klettern auf einen Baum) das Selbstvertrauen der Kinder, erhöhen ihr Kompetenzgefühl und ihr psychisches Wohlbefinden (Review, Studie I, Studie II, Studie III, Studie IV).

Werden die Kinder dagegen von allen Gefahren abgeschirmt, nehmen Phobien und Ängste zu (Studie I, Studie II).

Das Gleiche gilt für den emotionalen Bereich. Anstatt zu versuchen, unsere Kinder permanent vor Misserfolgen, Beleidigungen oder anderen Erfahrungen zu schützen, die emotionales Unbehagen hervorrufen könnten, sollten wir ihnen beibringen, damit umzugehen. Diese Erlebnisse gehören zum Leben dazu. 

Kurz gesagt, wenn man Kinder zu sehr beschützt, schwächt man sie (Studie).

Wir müssen unsere Kinder auf den Weg vorbereiten, anstatt zu versuchen, den Weg an die Kinder anzupassen. Wenn wir ihnen jedes kleine Hindernis aus dem Weg räumen, werden sie zu abhängigen Erwachsenen mit einer niedrigen Frustrationstoleranz. Es ist nicht so wichtig, was wir für sie tun, sondern wie wir ihnen beibringen, für sich selbst zu sorgen. 

Um es mit Nassim Talebs Worten zu sagen: „Wind extinguishes a candle and energizes fire. Likewise with randomness, uncertainty, chaos: you want to use them, not hide from them. You want to be the fire and wish for the wind.“

An dieser Stelle zwei offensichtliche, aber wichtige Hinweise:

  • Einige körperliche Schäden und emotionale Erfahrungen sind in der Tat lähmend oder traumatisierend und sollten vermieden werden.
  • Manche Risiken fördern das Wachstum, manche nicht. Erstere sind notwendig (in der richtigen Dosis), letztere unsinnig. Die Kinder im Auto nicht anzuschnallen beispielsweise ist ein Risiko, das nichts bringt und vermieden werden sollte.

Es geht darum, unsere Kinder so viel wie nötig zu schützen und nicht so viel wie möglich.

Unwahrheit Nummer 2: Vertraue immer deinen Gefühlen

Wie wir in einem früheren Artikel gesehen haben, sind Gefühle ein zweischneidiges Schwert. Manchmal machen sie uns auf Wahrheiten aufmerksam, die unserem rationalen Verstand nicht direkt zugänglich sind. Manchmal verzerren sie aber auch die Realität.

Emotionales Denken ist eine kognitive Verzerrung, bei der unsere rationale Seite (= der Reiter) nach Erklärungen sucht, um die Botschaften unserer emotionalen Seite (= der Elefant) zu rechtfertigen, anstatt zu analysieren, ob diese Emotionen tatsächlich der Realität entsprechen.

Indem wir emotional argumentieren, verstärken wir unsere erste emotionale Reaktion und kommen oft zu falschen Schlussfolgerungen. Drei Beispiele:

  • Wenn jemand Angst empfindet, schließt er daraus, dass er in Gefahr ist.
  • Wenn sich jemand einsam fühlt, nimmt er an, dass sich niemand um ihn kümmert.
  • Fühlt sich jemand überfordert, kommt er zu dem Schluss, dass er mit seiner Situation nicht zurechtkommt.

Kurz gesagt: Emotionen werden als Beweis für eine Überzeugung herangezogen und nicht für eine rationale Analyse der Situation.

Wir sollten uns nicht von unseren Gefühlen zu vorschnellen Urteilen verleiten lassen, sondern sie hinterfragen, um Lösungen zu finden.

  • „Gibt es objektive Anhaltspunkte für die Annahme, dass ich wirklich in Gefahr bin?“
  • „Hat wirklich noch nie jemand etwas für mich getan?“
  • „Gab es in der Vergangenheit nicht schon ähnliche Momente der gefühlten Überforderung, die ich kurze Zeit später lösen konnte?“ 

Geht es nach Jonathan Haidt und Greg Lukianoff sollte das Bildungssystem jungen Menschen beibringen, diese Art von kognitiven Verzerrungen zu erkennen und zu bekämpfen. Stattdessen verstärkt es sie. So wird etwa das Konzept der Mikroaggression gefördert, das als jedes Verhalten oder jede Bemerkung verstanden wird, die für eine Gruppe beleidigend sein könnte.

Das Problem hierbei ist, dass die Klassifizierung der Mikroaggression nicht von der Absicht des Senders, sondern von den Gefühlen des Empfängers abhängt.

Es gibt sicherlich absichtlich verletzende Bemerkungen, die wir als verbale Aggression einstufen könnten, aber in den meisten Fällen sind sie nicht böswillig. 

Auch wenn es sich um eine unkluge, negative Bemerkung handelt (indem sie etwa ein soziales Vorurteil widerspiegelt), beeinflusst die Art und Weise, wie wir reagieren, unsere psychische Gesundheit und die Qualität unserer persönlichen Beziehungen. Wir haben zwei Möglichkeiten:

  1. Wir verlassen uns auf unsere Emotionen: Wir nehmen an, dass wir Opfer einer gezielten Aggression geworden sind. Das steigert in der Regel unsere Ängste und führt zu Ressentiments gegenüber der anderen Person.
  2. Wir hinterfragen unsere Gefühle: Bevor wir sofort von bösen Absichten ausgehen, fragen wir uns, ob es auch eine andere Interpretationsmöglichkeit gibt. Wir wenden das Prinzip der wohlwollenden Interpretation an, indem wir die Aussagen unseres Gegenübers so rational und gütig wie möglich interpretieren, 

Die erste Option führt oft dazu, dass wir auf Rache und öffentliche Vergeltung aus sind (ein kurzer Blick in die Kommentarspalten sozialer Medien genügt, um hierfür einige Beispiele zu finden). Bei der zweiten Option hingegen können wir die Gelegenheit nutzen, um aufzuklären. Wir könnten zum Beispiel so antworten: „Ich weiß, dass dein Kommentar keine böse Absicht hat, aber ich denke, dass einige Leute ihn so interpretieren könnten.“

Es geht nicht darum, unglückliche Kommentare zu verteidigen, sondern darum, weniger schädliche Wege zu finden, mit ihnen umzugehen. Auf diese Weise können wir den Empfänger emotional besser schützen und die Beziehung zum Absender (der sich seines Fehlers oft gar nicht bewusst ist)  erhalten.

Wenn im Café jemand versehentlich gegen deinen Tisch stößt und deswegen etwas auf deine Hose kippt, würdest du nicht denken, dass du das Opfer einer Aggression geworden bist, sondern einfach, dass es ein unglücklicher Moment war. Die Auswirkungen auf deinen emotionalen Zustand und deine Gefühle gegenüber der anderen Person werden je nach deiner Interpretation sehr unterschiedlich ausfallen.

Die Kommunikation mit anderen Menschen wird sehr kompliziert, wenn wir ständig nach Gründen suchen, um uns angegriffen zu fühlen. Je mehr alltägliche Interaktionen du feindselig interpretierst, desto mehr wirst du unnötig leiden und desto mehr wirst du dich isolieren. Denke stets daran, dass die allermeisten Menschen nicht aus Böswilligkeit handeln und deine ersten Emotionen nicht unbedingt die Realität widerspiegeln.

Auch wenn eine Bemerkung wirklich beleidigend gemeint war, ist die Art und Weise, wie du darauf reagierst, ausschlaggebend für deine Seelenruhe. Reagierst du angegriffen, gibst du der anderen Person Macht. Du erlaubst ihr, deine Gedanken zu kontrollieren.

Der stoische Philosoph Epiktet fasst es so zusammen: „Es sind nicht die Dinge, die uns beunruhigen, sondern die Meinungen, die wir von den Dingen haben.“

Unwahrheit Nummer 3: Das Leben ist ein Kampf zwischen Gut und Böse

Die meiste Zeit unserer Vergangenheit lebten wir inmitten unseres Stammes, der aus einer kleinen Gruppe von Personen bestand. Die Evolution ist nicht nur die Geschichte von Individuen, die innerhalb einer Gruppe miteinander konkurrieren, sondern auch die Geschichte von Gruppen, die miteinander konkurrieren, oft unter Anwendung von Gewalt. 

Ursprünglich waren die Gruppen von überschaubarer Größe, was in direktem Zusammenhang zur Größe unseres Gehirns stand. Soziale Beziehungspflege erfordert einen hoch entwickelten präfrontalen Kortex, der in der Lage ist, die komplexen sozialen Codes und Strukturen zu verarbeiten: unser Platz in der Hierarchie, die geleisteten Gefallen, zu erwidernde Gefallen, der Grad der Vertrauenswürdigkeit jedes Einzelnen, unsere Beziehungen zu anderen Mitgliedern, die Beziehungen anderer Mitglieder untereinander usw.

Angesichts dessen wuchs die Größe von Stämmen mit der Entwicklung der Gehirne unserer Vorfahren und erreichte beim Menschen etwa 150 Individuen, die berühmte Dunbar-Zahl.

Je größer der zerebrale Neokortex ist, desto größer ist die Gruppe. Quelle: theconversation.com (direkter Link: Klick auf die Grafik)

Eines Tages haben die Menschen jedoch eine einzigartige Fähigkeit entwickelt, um diese Limitierung zu umgehen: Wir haben gelernt, Geschichten zu erfinden.

Wie Yuval Noah Harari in seinem Buch ‚Eine kurze Geschichte der Menschheit‘ erklärt, erfanden wir Götter und Mythen über unsere Vorfahren, woraus in der Folge Religionen und Nationen entstanden. Diese gemeinsamen Überzeugungen führten dazu, dass wir nicht mehr ausschließlich auf die Interaktion innerhalb unserer unmittelbaren Gruppe begrenzt waren, sondern eine Basis mit Millionen von Fremden hatten: „Wenn jemand an denselben Gott wie ich oder an dieselbe Nation wie ich glaubt, ist er wie ich“.

Aus der 'Cueva de las manos' in Argentinien. Etwa 10.000 Jahre alt. (Quelle: Wikimedia Commons; Direkter Link: Klick auf das Foto)

Diese Geschichten ermöglichen es, große Gruppen zusammenzuhalten. Die Geschichten ermöglichen aber auch, viele Menschen zu manipulieren, indem – wegen unbedeutender Differenzen – eine Gruppe oder Nation gegen eine andere ausgespielt wird, oft zum Vorteil einer kleinen Elite.  

Fast alle Gesellschaften haben Geschichten entwickelt, in denen ihre Helden und Götter gepriesen werden, während die der anderen verachtet werden. Stammesdenken neigt dazu, die Menschen zu spalten: „Wir gegen sie“.

Um auf die Gegenwart zurückzukommen: Unsere Gesellschaft ist mittlerweile in zahlreiche Gruppen gespalten, von politischen Parteien bis zu Fußballmannschaften, von Ethnien bis zu sexuellen Identitäten.

Diese Vielfalt ist nichts Schlechtes, solange wir nie vergessen, dass uns Menschen viel mehr eint, als uns trennt. Der Kampf für die Rechte einer Gruppe ist eine edle Sache, aber nur, wenn er unter Berufung auf die gemeinsame Menschlichkeit geführt wird. Eine Gruppe aus historischen oder biologischen Gründen zu benachteiligen, ist dagegen ungerecht und verwerflich. 

Leider machen einige soziale Bewegungen und Gruppen genau das: Sie betonen konstant die Unterschiede und verankern bei ihren Anhängern ein starkes Stammesdenken und den Wunsch Rache zu nehmen für die erlittene Ungerechtigkeit. Auf diese Weise vermehren sich Verhaltensweisen und Worte, die Aggression ausdrücken. Alles wird zu einem Kampf zwischen Unterdrückern und Unterdrückten. Dies ist ein perfektes Rezept, um das Zusammenleben zu schädigen und gegenteilige Reaktionen hervorzurufen.

Wenn wir die Lebensqualität und die psychische Gesundheit der Gesellschaft verbessern wollen, müssen wir alles in unserer Macht Stehende tun, um das Stammes- und Gruppendenken abzubauen und unser Gefühl der Zugehörigkeit zur gesamten Menschheit zu stärken.

Anmerkung: Auch wenn dies in dem Buch von Jonathan Haidt und Greg Lukianoff nicht thematisiert wird, so sehen wir doch, dass es auch in der Welt der Gesundheit zu ständigen Konflikten kommt, die auf denselben Prinzipien der Spaltung aufbauen. In vielen Fällen ersetzt heutzutage die Ernährung die Religion und die Ideologie verdrängt die Wissenschaft.

Unser Ziel sollte jedoch stets sein, unseren emotionalen Zustand und unser Zusammenleben mit anderen zu verbessern. Uns eint viel mehr, als uns trennt.

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